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Downsyndrom Marina tanzt

Neun von zehn Frauen brechen die Schwangerschaft ab, wenn beim Kind das Downsyndrom diagnostiziert wird. Meine Schwester Marina würde heute nicht leben, hätte unsere Mutter so entschieden. Ein Essay in Text und Fotos von Sabine Lewandowski
Foto: Sabine Lewandowski

Es sind 28 Jahre vergangen und nun stehen 143 Zentimeter vor mir. Marina, meine Schwester. Geboren im Oktober 1987. Sie kam mit dem Downsyndrom und einem Herzfehler auf die Welt. Meine Eltern wussten nicht, was sie erwarten würde. Natürlich waren sie schockiert, als sie damals die Diagnose bekamen. Sie hatten bereits drei kleine Kinder. Sie wussten nicht, was es bedeuten würde, sich um ein besonderes Kind zu kümmern. Vorurteile und Ängste haben sie anfangs überfordert.

Downsyndrom. Ein seltsames Wort. Es stammt vom Namensgeber, John Langdon Down. Es klingt negativ: Als ob es auch ein Up-Syndrom geben würde. Trisomie 21 könnte der Titel eines Science-Fiction-Films sein. Mongoloid konnte ich noch nie richtig aussprechen. Alle Wörter begleiten mich seit meiner Kindheit. Mit meiner Schwester haben sie nichts zu tun.

Foto: Sabine Lewandowski

Ein Chromosom mehr - kein Recht auf Leben?

Marina hat wie jeder andere Mensch gute und schlechte Tage. Die guten überwiegen meistens. Marina ist mit Kleinigkeiten zufrieden. Sie ist glücklich, wenn sie auf dem Weg zur Arbeit ganz vorne im Bus Platz nehmen darf. Sie freut sich, wenn es in der Werkstatt Pommes und Schnitzel statt Gemüseauflauf gibt. Eine ihrer größten Leidenschaften ist McDonald's.

Wenn sie stillschweigend mit ihrem Papa dort ist, bestellt sie sich zwei Cheeseburger. Einen verdrückt sie sofort, den anderen hebt sie sich für den nächsten Tag auf, um ihn genüsslich vor ihren Kollegen zu essen. Wenn sie zugenommen hat, nörgelt sie nicht an sich herum, sondern fängt konsequent an, bewusster zu essen.

Heutzutage werden Menschen mit der Diagnose Downsyndrom aussortiert. Mit dem Praena-Test ist es seit 2012 möglich, durch eine einfache Blutprobe der Mutter festzustellen, ob das ungeborene Kind eine Trisomie aufweist. Nach einer Downsyndrom-Diagnose brechen ungefähr 90 Prozent der Frauen die Schwangerschaft ab. Schon vor der Geburt wird diesen Kindern das Lebensrecht abgesprochen.

In Artikel 1 des Grundgesetzes steht: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Wer hat die Entscheidung getroffen, dass ein Mensch mit einem Chromosom mehr kein Recht auf ein Leben hat? Warum ist bei der Diagnose Downsyndrom in manchen Fällen ein Abbruch der Schwangerschaft sogar noch bis zum Entbindungstermin möglich? Und das, obwohl in Deutschland ein Abbruch eigentlich nur bis zur zwölften Schwangerschaftswoche straffrei ist?

Es sind andere, die Marina behindern

Marina ist verliebt. Momentan gilt ihre größte Aufmerksamkeit Johannes. Jeden Tag freut sie sich auf ihn und ihre Arbeit. Bereits am Vorabend bereitet sie sorgfältig ihre Brotzeit vor und geht rechtzeitig schlafen. Morgens ist sie die Erste, kocht Kaffee und überrascht meine Eltern gelegentlich mit einem schönen Frühstück. Marina hat ein eigenes Gespür für Mode und lässt sich nur schwer von einer anderen Meinung überzeugen. Es kommt schon einmal vor, dass sie sich eine Schere schnappt und einfach die Ärmel abschneidet. Bei ihr gibt es eigene Trends.

Marinas Selbstbewusstsein hätte ich manchmal gerne. Schon als kleines Mädchen saß sie stundenlang vor dem Spiegel und war begeistert von ihrer Schönheit. Sie liebt es zu singen und zu tanzen, selbst wenn sie alleine auf der Bühne steht.

Marina wird als Behinderte bezeichnet. Es ist jedoch nicht das Downsyndrom, das sie behindert, sondern andere Menschen. Menschen wie du und ich. Wir bilden uns ein Urteil und kratzen nur an der Oberfläche, die auf den ersten Blick anders und ungewöhnlich erscheint. Körperliche Besonderheiten wie Größe, Gewicht, Auffälligkeiten im Bereich der Kopfform, der Augen und Ohren passen nicht in unser Idealbild. Behinderung wird zu allererst als medizinisches Problem gedacht. Nicht als gesellschaftliche Aufgabe.

Meine Eltern haben Marina liebevoll angenommen und ihr die Möglichkeit gegeben, zu einem wunderbaren Menschen heranzuwachsen. Marina ist auf die Hilfe meiner Eltern, meiner Schwestern und von mir angewiesen, sie stößt oft an ihre Grenzen. Sie kann zum Beispiel nur einzelne Buchstaben lesen und schreiben. Das ist für sie kein Problem, sondern eine Herausforderung: Sie prägt sich Bilder ein. So kann sie alleine einkaufen und findet sich zurecht.

Es ist bewundernswert, welches Gespür sie für andere Menschen besitzt. Sie bleibt nicht an der Oberfläche, sondern sieht viel tiefer. Sie muss sich nicht unterhalten, um zu wissen wie es einem anderen Menschen geht. Sie spürt es, und genau im richtigen Moment verteilt sie Umarmungen und Küsse. Sie hat keine Hemmungen, ihre Gefühle zu zeigen. Für sie sind Menschen und Beziehungen das wichtigste. Es fasziniert mich, wie unbeschwert und locker Marina an das Leben herantritt. Marina kennt keine Zukunftsängste und Selbstzweifel. Während ich damit beschäftigt bin, mein Leben zu planen, mir Sorgen mache und Ängste kläre. Marina lebt jeden Tag ihr Leben. Und genießt es.

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Foto: Sabine Lewandowski